Keine 100 Meter von dem Haus entfernt, in dem ich aufgewachsen bin, befand sich die Bäckerei des kleinen Ortes. Von zuhause aus musste ich nur unsere lange Hofeinfahrt runter bis zur Straße, dann die Straße, auf der damals nie besonders viel los war, überqueren und noch an die 60 oder 70 Meter weiter in Richtung der Kirche, die in dem Ort mitten auf einer Verkehrsinsel steht. Über der Eingangstür wies nur ein kleines Schild auf die Bäckerei hin und wenn man in den Laden wollte, musste man das Haus durch die ganz normale Haustür, die man, wenn geöffnet war, einfach aufdrücken konnte, betreten. Vom Hausflur aus gelangte man nach links in die Wohnung der Bäckersleute, weiter hinten knickte der Flur nach rechts ab, dort ging es in die Backstube und die einzige Tür auf der rechten Seite führte in den kleinen Laden, in den nicht mehr als 3 oder 4 Kunden auf einmal passten. Die anderen mussten im Flur warten. Nur wir Kinder quetschten uns oft fast im Dutzend zusammen in den engen Raum.
Der Laden hatte eine Holzeinrichtung, die in diesem für die 60er Jahre typischen Mittelkackbraun lackiert war. Gegenüber der Tür war direkt schon die Ladentheke; auf der linken Seite niedriger, weil man dort seine Waren bekam, auf der rechten Seite etwas höher und zum Teil als verglaste Vitrine. Auf der Theke stand die alte Registrierkasse, die bei jedem Öffnen klingelte und hinter der Theke befand sich das Brotregal, oben Regale für die Brote, unten eine Art Schütte für die Brötchen. Die Brötchen hießen dort natürlich nicht Brötchen sondern Weck, so wie sie in München Semmeln oder in Hamburg Rundstücke heissen. Es gab dort eine einzige Brotsorte, ein Roggenmischbrot und eine einzige Sorte Brötchen, die ganz normalen und es gab Kümmelstangen. Ausserdem konnte man Weissbrot bekommen, das wurde aber nur in abgezählter Stückzahl auf Vorbestellung gebacken. Das normale Brot bestellte man besser auch, denn sonst war am Nachmittag häufig nichts mehr übrig. Wenn man Samstagmorgens Brötchen zum Frühstück wollte, musste man sich den Wecker stellen, denn nach 8 oder allerspätestens halb 9 hatte man nur selten Glück. Wenn etwas aus war, wurde nicht mehr nachgebacken, das gab es dann eben am nächsten Tag wieder. Aber für Notfälle, gab es immer eine tiefgekühlte Reserve an Brot aus der privaten Tiefkühltruhe der Bäckersfamilie. Auch am Mittwochnachmittag, an dem der Laden eigentlich geschlossen war. An den anderen Nachmittagen gab es Kaffeestückchen. Die besten Nougatplunder der Welt (und ich habe mittlerweile viele verschiedene an verschiedenen Orten probiert), Zimtschnecken mit dickem hellen Zuckerguss, die ganz ok waren, wenn man die Rosinen rauspickte, Streusselstückchen und diverse Blechkuchen, je nach Saison. Damals wurde noch jeden Nachmittag der Kaffeetisch gedeckt und fast immer gab es ein Stückchen dazu.
Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, wenn im Ort der traditionelle Krämermarkt veranstaltet wurde, gab es ausserdem Schillerlocken, gefüllt mit Sahne oder Buttercreme und sog. Maatsweck. Das war vom Teig her etwas ähnliches wie Rosinenbrötchen, aber ohne die doofen Rosinen (ich mochte sie trotzdem nicht, ausser in kalte Milch getunkt). Zu Beerdigungen wurden die gleichen Brötchen zum Trauerkaffee gereicht, da hießen sie allerdings nicht Maatsweck, sondern Beerdigungs- oder Totenweck.
Über der Ladentür hing eine große Glocke, die anschlug, wenn man die Tür öffnete und dann dauerte es meist nur einen kleinen Augenblick bis die Bäckersfrau durch die immer offenstehende Schiebetür hinter der Theke den Laden betrat. Tante Hilde. Oder eigentlich eher sowas wie „Dante Hilde“, weil das der Aussprache im Dialekt meines Heimatortes viel eher entsprechen dürfte. Wobei das „D“ in „Dante“ ein bisschen härter als ein normales „D“ und das „T“ ein bisschen weicher als ein normales „T“ gesprochen wird. Natürlich war sie nicht meine echte Tante, aber alle Kinder im Dorf nannten sie so, obwohl sie vom Alter her eher unsere Oma hätte sein können. Tante Hilde trug immer ihre Haare in einem korrekten Dutt hochgesteckt, der war ziemlich breit und groß und saß ziemlich weit oben auf ihrem Kopf. Deutlich weiter vorne als bei den meisten anderen Frauen, die einen Dutt trugen. Darüber trug sie, wenn sie in der Backstube oder im Laden war, immer ein Haarnetz, das in der Farbe ein kleines bisschen heller war, als ihr eigener Haarton, sodass man das immer sehen konnte. Und sie hatte immer eine dunkelblaue Kittelschürze mit adrettem weissen Kragen und weiss eingefassten Säumen an.
Oben auf der Ladentheke standen die Dinge, die damals unsere Kinderherzen am meisten begehrten. Kleine Gefäße mit allerlei Süßigkeiten, je für wenige Pfennige zu haben. Da gab es kleine rote Kirschlutscher mit grünen Pappstielen, bunte Kaustäbchen in Orangen-, Himbeer- und Zitronengeschmack, Lakritzschnecken, die ich schon als Kind nicht mochte, essbare Schnüre mit Apfel- und Colageschmack, weisse Schaummäuse und vor allem die runden Brausebonbons, die nur 2 Pfennige das Stück kosteten. Obwohl wir die einzelnen Preise natürlich auswendig konnten, standen wir immer lange überlegend und halblaut zusammenrechnend da und verplanten unser Taschengeld. Wir alle hatten Tante Hilde wirklich lieb. Nicht nur, dass sie immer freundlich zu uns war und ohne zu drängeln abwartete bis wir endlich wussten, was wir wollten. Sie verlor auch nie die Geduld, wenn sich wieder mal jemand verrechnet hatte und oft packte sie uns ein, zwei Dinge mehr in die kleinen, weissen Papierspitztüten, in denen wir die Kostbarkeiten aus dem Laden trugen. Und wenn man mit dem für Brot exakt abgezählten elterlichen Geld geschickt wurde, schenkte sie einem immer einen der Kirschlutscher oder eine weisse Maus, damit man nicht leer ausging. Ich war ungefähr 10 als sie starb und ich war damals lange traurig und habe sie vermisst, wie viele andere Kinder im Ort auch.
Tante Hildes Mann, der alte Bäcker, an dessen Namen ich mich gar nicht mehr erinnern kann, bekam man nur selten zu Gesicht. Eine Staublunge hatte er, durch das jahrzehntelange Einatmen des feinen Mehlstaubes ohne Mundschutz und er war schon, als ich noch recht klein war, sehr krank. Der Sohn hatte danach die Backstube übernommen, Bäckers Arnold – sprich: Bäggösch Annold, das „ö“ ganz weich gesprochen. Die Bäckersfamilie hieß nicht Bäcker, aber in meinem Heimatdorf war es üblich, dass die Leute sog. Dorfnamen hatten. Die waren Generationen früher, viele anhand der damaligen Berufe der Menschen, entstanden und zogen sich durch die Generationen fort. Oft war auch der Name mit dem Haus seiner früheren Bewohner verhaftet. Zogen Auswärtige in ein altes Haus, so bekamen sie auch oft den Dorfnamen der früheren Bewohner verpasst, da hieß man dann zB Zinke-ihr-nu-Fraa.
Morgens, wenn wir zur Bushaltestelle gingen, um mit dem Schulbus zur Schule zu fahren, hatte der Bäckersladen noch geschlossen. Aber hinten, an der Tür von der Backstube zum Hof, brannte immer für uns Kinder Licht. Die Backstubentür war nur angelehnt und wir mussten nur kurz rufen, dann kam der Bäcker mit einem Blech frischer, noch warmer Weck zur Tür. Er stellte sein Blech ab, nahm ein großes Messer, schnitt die Brötchen auf und packte einen der Mohnköppe, die Tante Hilde auf einem silbernen Tablett bereit gestellt hatte, in jedes Brötchen und jedem von uns einen Mohnkoppweck in eine Papiertüte. Mohnkoppweck, so hieß das damals in dem Ort. Erst Jahre später wunderte ich mich, weil da ja eigentlich gar kein Mohn drin war und noch später war der Begriff „Mohrenkopf“ politisch überaus unkorrekt. Vielleicht war er das auch damals schon, aber nicht in diesem Ort, in dieser kleinen Blase, in der man lebte. Die heutigen Schokoküsse hießen nunmal so. Das Geld, 25 Pfennige kostete dieser köstliche süße Genuss, hatten wir abgezählt in der Hand, denn es musste schnell gehen, damit wir den Bus nicht verpassten.
Ein paar Jahre später baute Bäckers Arnold sein Elternhaus um. Dort wo es links zur Wohnung der Bäckersleute ging, baute er einen größeren Laden hin mit einem eigenen Eingang und mit großem Schaufenster, vielen beleuchteten Regalen, hellem Fließenboden und einer Vitrine, so groß wie der ganze alte Laden gewesen war. Es gab eine zweite Sorte Brot, ein Vollkornbrot und jeden Tag Weissbrot, auch ohne Bestellung und es gab eine dunkle Brötchensorte und samstags auch Käse- und Sesam- und Mohnbrötchen. Noch ein paar Jahre später, erkrankte auch Arnold an einer Staublunge. Er zog aus dem Ort weg und verkaufte die Bäckerei. An Auswärtige. Die blieben erst mal bei den altbewährten Rezepten, änderten und ergänzten erst mal nur zaghaft das Sortiment. Die „neuen“ sind mittlerweile längst eingebürgert, haben die Bäckerei immer noch.
Aber dieser Charme des alten Ladens, der Charme von Tante Hilde und von noch warmen Mohnkoppweck, frisch von der Backstubentür, der ist nurmehr eine schöne Erinnerung.
Katja
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