Tag 44/44

Manchmal stelle ich mir vor, dass jeder Mensch, dem man im Leben begegnet, eine (oder auch mehrere) Seiten im Buch des eigenen Lebens füllt. Manche Seiten sind dicht mit Text in einer unleserlichen Schrift beschrieben und offenbaren ihren Inhalt nur bruchstückhaft. Manche sind spärlich beschrieben, manche voller Poesie. Bei manchen Seiten ist die Schrift verschmiert und das Papier ist aufgeweicht – von den vielen Tränen die darauf gefallen sind. Manche enthalten die Noten eines Musikstücks. Manche Seiten scheinen aus Thermopapier zu sein, erst ganz deutlich erkennbar und präsent, aber nach einer kurzen Weile verblasst die Schrift völlig, als wäre sie nie da gewesen. Manche Seiten sind voller Tintenkleckse, manche voller Tipp-Ex-Spuren. Manche einfarbig, andere leuchten in bunten Farben. Manche rascheln, so dass man meinen könnte, das Meer rauscht.  Und dann gibt es noch ein paar Seiten mit Regenbögen, gefüllt von Menschen, die gleichermaßen Sonne wie Dunkelheit und Tränen ins Leben bringen.

Und manchmal frage ich mich, wie wohl meine Seite im Buch anderer Leben aussehen würde.

Katja

Jetzt gucken Sie doch mal!

„Jetzt gucken Sie doch mal!“, sagt die kleine Frau und dann legt sie mir den Arm um die Schulter und dreht mich in die von ihr gewünschte Richtung, wo ich hingucken soll. „Ist das nicht wunderschön geworden?“, fragt sie während sie mit dem freien Arm, der nicht um meine Schulter liegt, in Richtung der Tomaten fuchtelt. „Gucken Sie! Ich hab da erst rechts die Tomaten eingeräumt und wollte schon die anderen direkt daneben packen, aber dann dachte ich „machste erst noch was Gelbes dazwischen, für den Kontrast“ und dann hab ich die gelben Zucchini entdeckt und dann wieder Tomaten und da noch ein grüner Streifen aus Frühlingszwiebeln und sehen Sie das, dass ich die sogar mit den Wurzeln abwechselnd sortiert habe?“ und während sich dieser Wortschwall in meine Richtung ergießt und ich zwar immer noch völlig irritiert bin, über die spontane und andauernde Berührung einer Fremden, merke ich doch, dass mich das Anfassen gar nicht so sehr stört, wie es eigentlich in einer solchen Lage der Fall wäre, denn diese kleine, ältere Frau ist ganz und gar entzückend in ihrer Freude und Begeisterung über ihr Werk – die farblich und auch ansonsten ansprechende Sortierung des Tomatenregals im Rewe. Und statt mich also unangenehm zu winden und aus ihrer Umarmung zu befreien, drehe ich mich zu ihr um, strahle sie ebenso breit an, wie sie mich und versichere ihr, dass das wirklich wunderschön aussieht und dass sie das wirklich gut gemacht hat.

Und dann gehe ich grinsend weiter – nicht ohne welche von den hübsch drappierten Tomaten und den Frühlingszwiebeln zu kaufen – aber auch ein bisschen betrübt, weil ich selber diese Fähigkeit nicht habe, mich so ausgelassen über etwas zu freuen oder stolz darauf zu sein, was ich selber gemacht habe und das auch laut herauszulassen. Aber Mitfreuen, das kann ich gut!

Katja

Die mit Abstand wertvollsten Dinge beim Einkaufen gab’s gratis

… so viel Sonne und Wärme, dass es für die erste Fahrt mit heruntergekurbeltem* Autofenster reicht

… der im Laden telefonierende Typ mit der eindeutig norddeutschen Sprachfärbung, der sein Telefonat mit einem „Jou, kiek mo wedder in“ beendet #Dialektliebe

… das erste Gänseblümchen am Wegrand

… der mitgehörte „Gehen Sie ruhig vor.“-„Vielen Dank, aber ich habe heute jede Menge Zeit und gönne mir das Warten.“-Dialog an der Kasse

… der Vater mit seiner Tochter, der einen leeren Regalgang nutzt, um mit dem Einkaufswagen Geschwindigkeit aufzunehmen und die Kleine zum Juchzen zu bringen ❤

… das strahlende Lächeln, das mir der Mann auf dem Parkplatz zuwirft #aufgefangen_mitgenommen

Katja

[*und ich mag das immer noch so nennen, auch wenn man schon lange nicht mehr kurbeln muss, um die Fenster zu öffnen]

Depression ist ein Arschloch.

Diese drecksverfickte Achterbahn, in der ich mich gerade emotional befinde, macht mich fertig und ich habe keine Ahnung, wie ich da hineingeraten bin und noch viel weniger, wo sich der Ausstieg befindet. Himmelhochjauchzend mit Hachz und Awww im einen Moment und nur kurze Zeit später sacke ich zusammen und bin nur noch ein heulendes Häufchen Elend. Und das geht so seit Tagen (oder vielleicht sogar schon Wochen? Die Zeit breit vor sich hin…) und immer wieder auf und ab und auf und ab und es laugt mich aus, macht mich fertig, raubt mir die Kraft. Im einen Moment will ich Bäume ausreißen und alle liegengebliebenen Dinge auf einmal erledigen, im nächsten fehlt mir die Kraft, mir auch nur einen frischen Kaffee zu machen. Mein Innenleben fühlt sich so unlogisch und surreal an wie mit 13 und ich hatte lange keinen so krassen Depressionsschub wie im Augenblick. Aber dann im nächsten Moment ist wieder alles ganz klar und ich merke, wie ich doch gerade voran komme, auf dem Weg herauszufinden, wer ich überhaupt unter all der vielen Angst und Traurigkeit bin und nicht nur herauszufinden, sondern auch wie ich anfange, mich mit all meiner Eigenheiten endlich und wenigstens ein Stück weit anzunehmen. Nicht mehr alles direkt als Makel zu empfinden, sondern auch zu sehen, dass auch gerade das, was ich oft als so fehlerhaft und gestört an mir empfinde, mich ausmacht und dass ich das genauso, also natürlich mit ein bisschen mehr Mühe, als Stärke empfinden könnte. Kann.

Aber dann, mit der nächsten Windung der Achterbahn kann ich mich wieder überhaupt nicht leiden, kann mich und meine Gedanken selber kaum aushalten, empfinde mich als Zumutung und will mich auf keinen Fall damit anderen zumuten. Das kenne ich von mir. Rückzug als das Mittel meiner Wahl, wenn es mir schlecht geht. Nur für mich bleiben, niemanden da mit reinziehen, niemandem auf die Nerven gehen. Und dann tu ich’s doch, schreibe all diesen Stimmungswust auf Twitter und möchte im nächsten Moment den Account löschen, um’s einfach bleiben zu lassen, damit niemand merkt, wie tief ich im Sitz der Achterbahn sitze, wie verworren ich schwanke. Wie verloren ich schwanke. Wie verloren. Ich. Bin.

Dabei weiß ich, dass Rückzug genau der falsche Weg ist, der der alles schlimmer und schlechter macht, dafür sorgt, dass die Tiefs unendlicher werden oder zumindest scheinen. Und bei diesen Überlegungen über Menschen und Nähe, die ich mir so sehr wünsche, gerate ich immer wieder an den Punkt, an dem mir aufgeht, wie einsam ich bin. Trotz all der freundlichen und mitfühlenden Menschen in meinem sozialen Netz, das für mich wirklich oft genau das ist – ein Netz, das mich auffängt.

Aber das, was mir so sehr fehlt, ist nur ein einziger Mensch, bei dem ich mich trauen würde, zu sein, wer und wie ich bin. Irgendwer als Adressat für ein „Hast du Zeit? Ich brauch dich gerade.“, bei dem ich mich das dann auch wirklich trauen würde. Mein halbes Leben lang war da E. und seitdem sie nicht mehr da ist, ist da eine Lücke. Klar, ich habe einen wunderwunderbaren besten Freund, aber der wohnt fast 300 km entfernt und hat mittlerweile eine Frau und drei Kinder und wir sind froh, wenn wir es überhaupt noch schaffen, einigermaßen regelmäßig zu telefonieren und am Leben des anderen teilzuhaben. Ich hab meine Schwester, die mir sehr nahe (vermutlich viel näher als ich ihr) ist und auch sie hat ein Aber. Wie eigentlich alle. Und diese Abers sind es, die mich in solchen Situationen zurückschrecken lassen, mich dazu bringen, mich nicht zu melden. Alle diese Menschen haben auch so schon genug um die Ohren und ich hab ja nicht mal echte Probleme, die ich teilen könnte, sondern nur diese Helligkeit, Licht, Wärme und Freude verschlingenden Dementorenmonstergedanken in mir. Und ich will ja nicht mal unbedingt über die reden. Ich will nur nicht mit ihnen alleine sein, sehne mich nach Gesellschaft, nach Ablenkung, nach jemandem, in dessen Gegenwart ich ins Weinglas heulen oder mich vor Lachen am Kaffee verschlucken kann.

Dass ich mich gestern von einem Menschen verabschiedet habe, bei dem genau das ging und der – für eine Weile – meine Geister vertreiben konnte, wie kaum jemand anderes, tut so weh, auch wenn es (nur) in der virtuellen Welt stattfand. Auch, weil es mir so schmerzlich bewusst macht, dass ich keine Ahnung habe, wo diese Galaxien zwischen uns hergekommen sind…

Ich will so gerne an meine eigene Liebenswürdigkeit glauben, das will ich wirklich wirklich (endlich). Aber ich weiß nicht, wie das geht, wo fast alles, was ich in den letzten Jahren versucht habe, an Freundschaften zu knüpfen, nicht funktioniert. Und ich weiß, dass es vermutlich deswegen so schwierig ist, weil ich es mir so sehr wünsche. Aber wie soll ich denn nur anders? Ich versuche die ganze Zeit, die Stimme in meinem Kopf zu unterdrücken, die mir einredet, dass ich immer alles vermassele, aber das ist so schwierig. Denn am Ende stehe ich immer bis zu den Knöcheln in Scherben.

Und dann, mit der nächsten Gedankenwelle, fühle ich mich so verflucht undankbar. Ich kenne so dermaßen großartige Menschen, mit denen ich täglich kommuniziere und für die ich wirklich dankbar bin. Und trotzdem. Vielleicht liegt es auch ausschließlich an mir, dass mir dieser eine Adressat für ein „Hast du ein bisschen Zeit für mich?“ fehlt, weil ich ohnehin zu feige bin, solche Fragen zu stellen.

Katja

Neulich auf dem Parkplatz

Heute Nachmittag fahre ich auf den Supermarktparkplatz. Ein Stück vor mir rangiert jemand ziemlich langsam aus einer Parklücke raus. Ich halte, statt mich vorbeizudrängen, in ausreichendem Abstand an und warte ab, dann fällt mir auf, dass direkt rechts von mir eine freie Parklücke ist, die ich wegen des Rangierers vorne übersehen hatte. Ich fahre in die Parklücke, merke schon, dass mich ein Mann in 3, 4 Metern Entfernung beobachtet, steige aus. Er so „Sie haben Ihren Behindertenausweis vergessen.“. Ich – völlig verdutzt und mehr stammelnd als deutlich – weil ich weder wusste noch gesehen hatte, dass es sich um einen Behindertenparkplatz handelt „Oh, ist das ein Behindertenparkplatz?“ Er schnaubt ein verächtliches „natürlich“ raus, dreht sich um, geht weg. Ich steige wieder ins Auto, fahre aus der Parklücke (tatsächlich, am Boden ist ein Rollstuhl aufgemalt, den man aber durch den Frost auf dem Plaster kaum erkennen kann), parke anderswo.

Stunden später geht mir die Situation immer noch nicht aus dem Kopf.

Ich habe noch nie (absichtlich) auf einem Behindertenparkplatz geparkt. Nicht mal für 5 min. Nicht mal, wenn ich im Auto sitzen geblieben bin. Mir war die Situation nachmittags entsetzlich unangenehm. Die durch seine Bemerkung implizite Unterstellung des Mannes, ich hätte absichtlich auf dem Behindertenparkplatz geparkt, mein unsicheres Stammeln (,das mich vermutlich erst recht hat „schuldig“ wirken lassen) und das blöde Gefühl hinterher.

Eigentlich ist das keine große Sache und doch lässt es mich schon den ganzen Tag nicht los. Ich geb mir doch tatsächlich Mühe, die Dinge richtig zu machen und es war ein Versehen. Und irgendwann bin ich auch wütend über die Unterstellung geworden, diese Bemerkung, die mir gar keinen sinnvollen Raum zur Reaktion ließ, der Mann der automatisch davon auszugehen schien, dass ich natürlich in vollem Bewusstsein und Absicht einen Behindertenparkplatz blockiere ( und das obwohl 3/4 des Supermarktparkplatzes frei waren…).

Seitdem denke ich darüber nach, wie diese Situation sich auch hätte klären können.

„Entschuldigung, haben Sie bemerkt, dass Sie auf einem Behindertenparkplatz parken?“

„Huch, nein. Das habe ich gar nicht gesehen. Haben Sie vielen Dank, dass sie mich darauf hinweisen.“

Es hätte so einfach sein können. Für ihn, wenn er nicht automatisch von meiner Schlechtigkeit ausgegangen wäre. Für mich, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, meinen Irrtum auf angenehmere Weise aufzuklären.

Und selbst wenn ich absichtlich dort geparkt hätte (was ich, um’s nochmal zu erwähnen, nicht habe), wäre die zweite Variante so viel positiver gewesen. Denn dann wäre ich nicht verärgert über’s „auf frischer Tat ertappt werden“ gewesen, sondern hätte auch dann einen Ausweg gehabt, bei dem ich mich zwar geschämt, aber mein Gesicht nicht verloren hätte. Was – und jetzt unterstelle ich mal – vermutlich eher dazu geführt hätte, dass ich mir in Zukunft eine bessere Parkmöglichkeit gesucht hätte.

Für mehr Nachfragen und weniger Unterstellungen!

Katja

Fehlwort

Es sitzt so tief dieses Gefühl, nicht „nein“ sagen zu dürfen. Immer alles zur Zufriedenheit aller erledigen. Nur niemanden vor den Kopf stoßen, nur nicht anecken.

Gerade gerate ich in einer Beziehung an eine meiner Grenzen, die ich zum ersten Mal so deutlich wahrnehme und spüre. Merke, wie es mir fast körperliches Unbehagen bereitet, mit Bitten, die sich – da bin ich vermutlich selbst dran schuld mit meinem ewigen „Ja“-Sagen – schon fast wie (An-)Forderungen anfühlen, konfrontiert zu werden, immer ein bisschen größer, immer ein bisschen mehr. Und ich bin da so reingerutscht, aus Sympathie und dem ewigen Wunsch gemocht zu werden und meiner Unfähigkeit, mich evtl. schon frühzeitig(er) ein bisschen abzugrenzen.

Das nicht „Nein“-Sagen-Können ist alt, ist mir früh als nicht „Nein“-Sagen-Dürfen antrainiert worden. Jetzt fange ich an, diese Situationen wahrzunehmen, wo meine Gutmütigkeit ausgenutzt wird, empfinde und (be-)werte sie anders als früher. Das ist auf der einen Seite gut, weil es sich endlich ein Stück weit danach anfühlt, dass auch ich mit meinen Bedürfnissen wichtig bin, endlich anfange mich selber auch ein bisschen wichtiger zu nehmen und mir zuzugestehen, nicht immer alles freudig für andere zu erledigen. Auf der anderen Seite ist es so unendlich schwierig, weil ebenso tief wie das nicht „Nein“-Sagen-Können immer noch das Gemocht-Werden-Wollen* sitzt und ich werde irgendwo zwischen den alten Mustern und den neuen Gefühlen wie ein Spielball hin- und hergeworfen und weiß (noch) nicht, damit umzugehen.

Katja

[*Ja, ich weiß, dass Nein-Sagen nicht zwangsläufig zum Nicht-Mehr-Gemocht-Werden führt, aber Wissen und Fühlen und Befürchten sind oft so weit voneinander entfernt.)

Das Mädchen und die Frau.

Das kleine Mädchen auf Rollschuhen, lachend, strahlend, ungestüm rumrasend, stolpernd, weinend, aufstehend, lachend, strahlend, ungestüm rumrasend. Immer wieder ein ganzes Stück nach vorne auf der Promenade und zurück zu ihrem Vater. Der, ebenfalls lachend, strahlend, sie immer wieder und wieder anfeuernd, ihr Mut zusprechend.

Die Frau, die die Szene beobachtet, zuerst denkend „Ufff, das geht doch hier niemals gut, die tut sich gleich ernsthaft weh, wie leichtsinnig das alles ist“, dann auf einmal erkennend, woher diese Gedanken kommen. An ihre eigene Kindheit zurückdenkend „Komm da runter, du fällst. Mach das nicht, du tust dir weh. Nicht so schnell. Nicht so hoch. Nicht so weit. Nicht so, nicht, nicht, nicht. Du tust dir weh. Du kannst das nicht. Du fällst hin.“. Die Frau, die die Szene beobachtet, auf einmal wissend „So geht das. So er_mutigt_ man sein Kind, so bestärkt man es, gibt ihm Selbstvertrauen.“.

Die Frau auf der Promenade, Tränen in den Augen, zum ersten Mal nicht voller Selbsthass wegen ihrer Feigheit vor allem, vorm Leben, sondern voller Mitgefühl mit dem kleinen Mädchen, das sie vor so vielen Jahren war und das eine ganz andere Lektion zu lernen hatte als jenes auf den Rollschuhen, sich fragend, was für ein Leben sie hätte führen können, wenn jemand da gewesen wäre, der sie lachend und strahlend angefeuert, ihr Mut gemacht hätte.

Die Frau mit den Fingern auf der Tastatur, „besser spät als nie“ denkend, sich endlich mehr trauend, sich endlich Dinge zu_trauend_.

Katja