Wir verbrachten damals den Sommerurlaub immer im gleichen winzigen Dorf an der Ostsee. In den ersten Jahren noch zusammen mit einer anderen Familie, die entfernt mit uns verwandt war und zu denen meine Eltern engen Kontakt hatten, später, als es denen zu viel wurde, jedes Jahr wieder in den gleichen Ort zu fahren, dann nur meine Familie alleine. In den ersten Jahren ging ich noch nicht mal zur Schule und insgesamt fuhren wir dorthin bis ich 14 war. Also vermutlich 10 Jahre, eher 11 am Stück, jeden Sommer. In manchen (wenigen) Jahren auch noch zusätzlich eine Woche über Ostern. Aber normalerweise nur im Sommer, denn die Osterferien verbrachten wir fast immer, in etwa der gleichen Entfernung in die andere Richtung – am Bodensee bei meiner Oma väterlicherseits.
Dieser Ort, das war mein wahres Zuhause, zumindest war da immer dieses Gefühl, dass das alles verkehrt herum ist. Dass wir dort leben und wohnen und dann dorthin, wo wir tatsächlich wohnten in Urlaub fahren sollten.
Wir wohnten immer im gleichen Haus bei den gleichen Leuten in der Ferienwohnung, fast immer in der gleichen Wohnung. Wir links im Flur, wenn man die Treppe hochkam. Die andere Familie direkt am Treppenabsatz rechts. Später dann, als das Dachgeschoss ausgebaut war und wir alleine hinfuhren, wohnten wir oben unterm Dach. Wenn man zur Wohnungstür reinkam, stand man direkt im Wohnzimmer mit Esstisch und kleiner Küchenzeile. Eigentlich war es gar kein richtiges Wohnzimmer, denn es gab für 4 Personen nur insgesamt 2 Sessel als bequeme Sitzgelegenheit. Nach links ging es zuerst ins Bad, dann in das Zimmer von meiner Schwester und mir. Rechts vom Wohnzimmer war das Schlafzimmer meiner Eltern.
Die Dachgeschosswohnung mochte ich lieber, denn wenn man sich weit aus dem Fenster unseres Zimmers rauslehnte und den Oberkörper halb nach rechts drehte, dann konnte man von dort aus bis zum Sportplatz und mit guten Augen auch bis zum dahinter liegenden Spielplatz gucken. Man konnte zwar nicht erkennen, wer dort war, aber auf jeden Fall, ob jemand da war.
Je häufiger wir dort hinfuhren, desto besser lernten wir die dortigen Dorfkinder kennen. An die ersten Jahre kann ich mich nicht mehr so gut erinnern, aber sobald ich schreiben konnte, hatte ich dort meine ersten Brieffreundinnen und Brieffreunde. Anfangs nur 2, dann von Jahr zu Jahr wurden es mehr Kinder, denen ich das ganze Jahr über Briefe schrieb und die mir schrieben.
Vor dem Haus gab es ein kleines Stück Rasen und davor ein flaches Mäuerchen und an den Tagen, wenn wir dort zum Urlaubsbeginn ankamen, saß schon immer ein halbes Dutzend der Dorfkinder und erwartete uns sehnsüchtig. Wir mussten immer erst helfen, das Auto auszuräumen – natürlich unter tatkräftiger Hilfe der Freundinnen und Freunde – und mussten auch immer zuerst unsere Betten beziehen, aber dann hielt uns nichts mehr in der Wohnung und wir stürmten allesamt durch den Garten unserer Ferienwohnungsvermieter, der einen direkten Zugang zum Sportplatz hatte und über den Sportplatz zum Spielplatz. Die große Blockhütte, die dort stand, war unser Ziel. Dort verbrachten wir die meiste Zeit der Urlaube. Zu den Essenszeiten strömten alle ins jeweilige Zuhause, aber ansonsten verbrachten wir die meiste Zeit des Tages zusammen mit den Kindern dort.
Später verlagerte sich das an die Bushaltestelle. Ich glaube, wir fühlten uns einfach zu alt und zu cool damals, um noch den ganzen Tag auf dem Spielplatz abzuhängen. An der Bushaltestelle gab es zwei solcher überdachten und seitlich verkleideten Bänke, eine nach vorne zur Straße, eine nach hinten raus. Wer zuerst da war, erkannte man daran, wer einen Platz hinten ergattert hatte. Da konnte man zwar nicht so gut beobachten, was auf der Straße so vor sich ging, aber man konnte auch nicht so einfach von vorbeikommenden Erwachsenen gesehen werden.
Das alles war so anders als in meinem echten Zuhause, denn die hielten alle zusammen. Klar gab’s da auch mal Streit. Aber wir wurden dort mit einem unglaublichen Selbstverständnis in die Gemeinschaft aufgenommen und gehörten einfach dazu. Es spielte keine Rolle, dass wir nur ein paar Wochen im Jahr da waren, wir hatten ja auch das ganze Jahr über Kontakt. In meinem Heimatdorf gab es sowas nicht. Dort hätten niemals die Älteren sich mit den Jüngeren abgegeben, da war es schon schwierig innerhalb der einzelnen Jahrgänge irgendwie dazuzugehören.
Vor ein paar Tagen habe ich in einem Gespräch über glückliche Kindheitserinnerungen nachgedacht und deswegen muss ich das jetzt hier aufschreiben. Denn fast alle meine glücklichen Kindheitserinnerungen gehören in diese Urlaube, gehören in dieses kleine Dorf an der Ostsee.
Wenn wir nicht gerade auf dem Spielplatz saßen und große Pläne schmiedeten, waren wir oft angeln. Es gab 3 kleine Teiche im Dorf. Den Feuerwehrlöschteich, der immer komplett von einer grünen Schicht Entengrütze überzogen war (Lasst euch nie in so ’nen Tümpel schubsen! Das Zeug klebt fies in den Haaren und allen Poren.), den Krügerteich, wo wir eigentlich aber gar nicht hätten angeln dürfen und wo wir das nur gemacht haben, wenn Kais Eltern nicht da waren und den Teich vor Marios Haustür, von dem ich gar nicht mehr weiss, ob er einen Namen hatte. Dort durften wir angeln, dort störte sich niemand an uns. Und da saßen wir auch unzählige Stunden rum, oft schweigend, denn wenn man zu laut ist, beissen die Fische natürlich nicht. Was wir fingen, wurde vorsichtig vom Haken genommen und wieder in den Teich geworfen. Ums Angeln an sich ging es uns, nicht um den Fang.
Beim allerersten Mal, wo ich zum Angeln mitdurfte, wurde ich – als Jüngste und noch dazu Mädchen (angeln gingen fast nur die Jungs, die Mädchen hatten sie nicht so gerne dabei, weil die, ihrer Meinung nach, nicht stillsitzen konnten) – auserkoren, die Köder zu besorgen. Ich war damals stolz wie Oskar, dass sie mich mitnahmen und es machte mir überhaupt nichts aus, bis zu den Ellbogen im Kompost zu wühlen, um nach Regenwürmern zu graben. Wir lachten viel, aber es war kein Auslachen, dass ich so doof war, tatsächlich die Arme in den Kompost zu stecken, sondern ein gemeinsames Lachen, weil ich daran sogar noch Spaß gefunden habe. Nur am Haken befestigen wollte ich die armen Würmer dann doch nicht…
In dem Ort gab es einen Kaufmann. Ein echtes Original, sowohl der Laden als auch der Ladenbesitzer, der mir schon uralt vorkam als ich noch nicht zur Schule ging und der den Laden immer noch betreibt. Der nennt sich auch heute noch Kolonialwarenladen und verkaufte einen kruden Mix verschiedener Waren, von denen ich mich bei manchen schon als Kind gefragt habe, wie lange die wohl schon in den Regalen des Ladens liegen. Zum Beispiel bekam man dort noch echte alte Metallwärmflaschen – nicht als besonderes Gimmick, sondern die blieben so lange im Sortiment bis sie eben verkauft waren. Und so lange hatte er auch keine Nachfolgemodelle aus Gummi in den Regalen liegen, was besonders skurril wirkt, wenn man dem Wikipediaartikel glauben kann, dass die aus Gummi schon in den 1920er Jahren in Mode kamen.
Abends, wenn sie vom Kartenspielen mit dem Ferienwohnungsvermieterpaar zurück in die Ferienwohnung kamen, legten meine Eltern ein bisschen Kleingeld auf den Esstisch und es war die Aufgabe von meiner Schwester oder mir, morgens, bewaffnet mit der kleinen Plastikmilchkanne, loszuziehen und Milch und Brötchen beim Kaufmann zu holen. Doch egal wie früh man auch hinkam – die Brötchen waren nie frisch und schmeckten immer so und waren auch so hart, als wären sie mindestens einen Tag alt. Aber im Ort gab es ansonsten auch keine andere Möglichkeit der Brötchenbeschaffung, also nahmen wir das ziemlich lange so hin.
Irgendwann, ich war dann sicher schon in der Schule, wir waren also schon ein paar Jahre lang dort im Urlaub gewesen, als tatsächlich mal jemand vor mir an der Backwarentheke stand, sollte ich eine wichtige Lektion für künftige Jahre des Brötchenkaufs dort lernen: Es gab dort zwei Kübel mit Brötchen hinter der Theke und die Frau, eine Einheimische, die vor mir dran war, bestellte ‚x frische Brötchen‘ und bekam ihre Brötchen aus dem einen Kübel, ich bestellte ganz normal meine ‚x Brötchen‘ und bekam sie aus dem anderen, die natürlich wieder steinhart waren. Aber das war das letzte Mal, ab dem nächsten Tag gab es auch bei uns frische Brötchen und ich erinnere mich an das ungewohnte Lächeln des Kaufmanns bei der Bestellung. Wer den Geheimcode kennt, gehört dazu.
Wenn ich an den Ort denke, habe ich heute noch ein warmes Gefühl im Bauch. Ich frage mich, was aus den Kindern von damals geworden ist. Ich denke an unzählige Morgen, an denen ich, die Milchkanne schwenkend das Dorf durchquert habe und an denen mir mit großer Selbstverständlichkeit das ‚Moin‘ als Gruß über die Lippen ging, wenn ich an einem der Dorfbewohner vorbeikam, der gerade den Sand auf dem Bürgersteig vor seinem Haus gerecht hat.
Ich denke an unzählige Male, in denen ich in einem der Teiche gelandet bin – und nur ein einziges Mal bin ich tatsächlich aus Dappigkeit und ohne fremdes Nachhelfen reingefallen.
Ich erinnere mich daran, wie wir heimlich, als unsere Eltern tagsüber am Strand waren, unsere Freunde mit in die Wohnung nahmen, was uns eigentlich verboten war und wie wir dort gemeinsam Spaghetti kochten und Pudding und dass meine Mutter uns tatsächlich glaubte, meine Schwester und ich wären so hungrig gewesen, dass wir alleine ein ganzes Kilo Nudeln verschlungen haben.
Ich denke an Tanja und Sven, an Hauke und Heiko, den alle nur Fiete nannten, an Mario und Jan, nach denen ich schon unzählige Male gesucht habe, seit es das Internet gibt, an Susan und Anne, die beiden Andreas, Kirsten und Peggy, an Kai und Dirk, an Ingo, der in Hamburg wohnte und die Ferien immer bei seiner Tante verbrachte und der mich auf seiner Mofa, denn die Mofa ist im Norden zwingend weiblich, mit ins Kino nahm und an Marc, der eigentlich in Lübeck wohnte, aber die Ferien bei seinem Großvater in der Schmiede verbrachte und der mit mir zusammen durchbrennen wollte. Zu all diesen Namen habe ich noch Gesichter im Kopf, trotz all der Jahre, die dazwischenliegen.
Ich erinnere mich an mein erstes Udo Lindenberg Konzert von vielen und wie sehr Jan, der einsneunzig Riese mir damals geholfen hat, meine Eltern davon zu überzeugen, dass er mitgehen und gut auf mich aufpassen würde und dass er mitkam, obwohl er Udo nicht sonderlich mochte und daran, dass irgendwo im Keller immer noch das von der Plakatwand in der nächsten Stadt geklaute Plakat des Konzertes liegt, und an den Abend, als ich das mühevoll mit mehreren Plakatschichten untendrunter abgefummelt habe, damit es nicht einreisst und dass mein Vater ein paar Meter weiter Schmiere stand und immer gepfiffen hat, wenn jemand sich näherte und das ist überhaupt meine älteste richtig gute Erinnerung an meinen Vater.
Die Erinnerung macht mir ein warmes Gefühl. Freundschaft und Zusammenhalt – denen bin ich selten im Leben in solchem Ausmaß wie in dem winzigen Dorf an der Ostsee begegnet.
Katja
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