Nicht verzagen, August fragen!

Als ich noch sehr klein war, dachte ich, mein Opa könne zaubern oder aber mindestens mal hellsehen.

In der Küche meiner Großeltern gab es eine Eckbank, im typischen 60-er Jahre Stil aus hellem schnörkellosem Holz, bezogen mit rotem Kunstleder, dem man die Künstlichkeit schon von weitem ansah und eine meiner Lieblingsbeschäftigungen so mit 2 oder 3 Jahren – oder zumindest eine der Schlechtwetter-Beschäftigungen, an die ich mich heute noch erinnern kann – war, auf dieser Eckbank hin- und herzuflitzen. Und immer wieder hin und her bis kurz vorm Ende, dann abrupt abbremsen, denn es gab ja keine seitliche Lehne, die mich gestoppt hätte, umdrehen und wieder zurück. Damit konnte ich mich bei Regenwetter, wenn es zu ungemütlich war, um draussen zu spielen, lange lange Zeit beschäftigen.

Wenn mein Opa von draussen reinkam, er hatte eigentlich immer irgendwas draussen zu tun, wovon er dann irgendwann reinkam, sagte er stets „Pass auf, gleich fällst du!“ und genau so kam es. Konnte ich vorher auch stundenlang (vielleicht waren es in echt auch keine Stunden und es kommt mir nur in meiner Erinnerung so vor) gefahrlos und unfallfrei auf der Bank herumrennen, so war der Spaß immer vorbei, wenn mein Opa die magische Warnung aussprach, denn kurz danach schaffte ich es tatsächlich nicht mehr rechtzeitig abzubremsen und fiel mit Karacho auf den Küchenfußboden. Damals war für mich klar, dass er mindestens hellsehen konnte, wenn er nicht gar selber mit seiner Magie dafür verantwortlich war, dass ich runterfiel.

Natürlich durfte ich dann immer auf seinen Schoß und er hat mich getröstet, wenn ich mir weh getan hatte. Aber ganz geheuer war er mir damals nicht.

Später dann, irgendwann in der Pubertät merkte ich, dass mein Opa derjenige war, der für jedes praktische Problem eine Lösung fand. Mit schulischen Dingen brauchte ich ihn nicht zu behelligen, er war nur zur Volksschule, wie man das damals nannte, gegangen, aber für jedes ‚geht nicht mehr‘ oder ‚hält nicht mehr‘ oder dergleichen fand mein Opa eine ebenso simple wie gute Lösung.

„Nicht verzagen, August fragen!“ war einer der Sätze, die ich vermutlich am häufigsten von meinem Opa gehört habe. Er konnte mit Holz ebenso gut umgehen wie mit Metall, er fräste und drehte, hobelte und schraubte und manchmal wickelte er auch ganz einfach eine Schnur um die Dinge, die nicht mehr hielten, aber stets konnte man sich darauf verlassen, dass er eine passende und haltbare Reparaturmethode auf Lager hatte.

Und wenn die erste Lösung einmal nicht funktionierte, dann machte er einfach so lange weiter bis er die passende Methode fand.
Als mein erstes Auto dauernd nächtliche Besuche eines Marders bekam, der die Zündkabel durchnagte, klapperte mein Opa sämtliche Nachbarn mit Hunden ab, um sich Hundehaare zu besorgen und stopfte die in den abgeschnittenen Fuß einer Perlonstrumpfhose von meiner Oma, weil das seiner Erfahrung nach am ehesten half. Da wo Hunde waren, hielten sich Marder fern.
Als das nichts half und ich zum wiederholten Male ein neues Zündkabel brauchte, verteilte mein Opa mehrere dieser Duftsteine, wie man sie zur Erfrischung von Toiletten benutzt, unter der Motorhaube meines alten Golfs. Mein Auto wirkte mit den Strümpfen voll mit Hundehaaren und mit den WC-Duftsteinen ein bisschen wie ein Voodoo-Schrein, zumindest kam es mir damals so vor, aber vor dem Marder hatte ich eine ganze Weile Ruhe.
Als er irgendwann zurückkehrte, oder vielleicht war es bis dahin auch ein ganz anderer, zimmerte mein Opa mir schließlich einen Holzrahmen, den er mit diesem feinmaschigen Draht bespannte, wie man ihn üblicherweise für Hasenställe verwendet. Den musste ich abends unter die Motorhaube schieben und danach brauchte ich nie wieder neue Zündkabel. Natürlich war es auch mein Opa, der oft genug, wenn ich es vergaß, den Draht für mich unter das Auto schob. Bei seiner allabendlichen Runde, bei der er kontrollierte, ob alle Türen verschlossen waren, vergaß er nie, auch nach meinem Auto zu schauen. Und das erstreckte sich auch darauf, dass ich mich damals nie um solche Dinge wie Scheibenwischwasser oder den Ölstand oder im Winter Frostschutz im Kühler kümmern musste. Noch bevor ich überhaupt an diese Dinge gedacht hätte, hatte mein Opa sich schon gekümmert.

Ich kann mich an ein einziges Mal erinnern, wo ich sauer auf meinen Opa war und das war, als er hinter meinem Rücken den Nachbarn darum gebeten hatte, „Friedolin“ zu fällen. Da war mein Opa schon zu alt, als dass er das gefahrlos selber und alleine hätte machen können. Friedolin war der alte Kirschbaum in unserem Garten, dem ich als Kind diesen Namen gegeben hatte und unter dem ich auch später, als ich älter wurde, noch häufig mit einem Buch auf den Knien, den warmen Baumstamm im Rücken, gesessen habe. Der Baum war alt und so verwachsen, dass man selbst mit einer Leiter nicht mehr gefahrlos hochklettern konnte, um die Kirschen zu ernten. Und auch das machte meinen Opa aus – in erster Linie zählte der praktische Nutzwert von Dingen und ein Kirschbaum, dessen Kirschen man nicht mehr ernten konnte, dessen Zeit im Garten war abgelaufen. Als ich an jenem Abend in die Küche meines Opas kam, wusste ich direkt, dass etwas nicht stimmte, denn dass er so herumdruckste, um mir etwas zu erzählen, das kannte ich von meinem Opa, der stets gerade heraus war, nicht.

Mein Opa war der treueste Mensch der Welt. Als meine Oma nach fast 50 gemeinsamen Jahren plötzlich ins Krankenhaus musste, weil ihre eine Herzklappe nicht mehr richtig arbeitete, da fuhr mein Opa jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe die 25 km und als sie nach 3 Wochen in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde dann über 40 km und blieb von morgens bis nach dem Abendessen im Krankenhaus an der Seite meiner Oma. Er fütterte sie, er wusch sie, er kämmte ihr Haar und hielt ihre Hand, wenn die Kanüle wieder einmal verstopft war und die Ärzte einen neuen Versuch unternehmen mussten, noch eine Stelle zu finden, in der sie die Nadeln stechen und einen neuen Zugang legen konnten. Sechs Wochen lang verbrachte er jeden einzelnen Tag von morgens bis abends im Krankenhaus, die meiste Zeit davon mit Kittel und Mundschutz, Haube und Handschuhen versehen auf der Intensivstation und selbst, wenn meine Mutter oder ich hinfuhren, blieb auch er noch dort und ging nicht, bevor er sicher sein konnte, dass er an dem Tag nichts mehr für meine Oma tun konnte.

Als meine Oma starb, sah ich meinen Opa zum ersten und einzigen Mal weinen, wie ein kleines Kind.

Mein Opa war der erste (und vermutlich auch einzige) Mensch, bei dem ich als Kind das Gefühl hatte, mich hundertprozentig auf ihn verlassen zu können und dass seine Liebe zu mir an keine Bedingungen geknüpft ist.

Von ihm lernte ich, dass es besser ist, die Dinge eines nach dem anderen anzugehen – so wie man eben Klöße isst. Natürlich lernte ich das nicht auf Hochdeutsch von ihm, sondern im Dialekt des kleinen hessischen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Und von ihm lernte ich auch nach kreativen Workarounds zu suchen, wenn mir nicht auf Anhieb eine elegante Lösung einfiel. Aber ich vermute, dass er mit dieser Beschreibung seiner Art, Probleme anzugehen, gar nichts anfangen könnte, denn er war immer mehr ein Macher als jemand, der lange über die Dinge nachdachte.

Heute wäre der 93. Geburtstag meines Opas. Ich weiss nicht mal, ob er tatsächlich ein gläubiger Mensch gewesen ist, aber ich weiss, dass er immer die Vorstellung von diesem Himmel hatte, in dem man all seine Lieben nach dem Tod wiedertrifft und in dem er gehofft hat, meine Oma wiederzutreffen. Und wenn ich nur ein bisschen von der Zauberkraft meines Opas, an die ich als Kind fest geglaubt habe, geerbt habe, dann wünsche ich ihm von ganzem Herzen, dass er genau dort heute sitzt und seinen Geburtstag feiert!

Katja