Am 24. November 1987 klingelte morgens um halb 7 das Telefon und schon bevor ich ranging, wusste ich genau, dass es meine Tante war, die anrief und dass sie anrief, um mir zu sagen, dass mein Vater in der Nacht gestorben war. In den letzten paar Tagen vorher zuckte ich bei jedem Telefonklingeln zusammen, immer in der Angst, dass das jetzt der Anruf mit dieser Nachricht sein könnte. Keine zwei Wochen vorher hatte mein Vater Geburtstag, seinen 43., es ging ihm soviel besser als die letzten Wochen und Monate vorher, von denen er die meiste Zeit im Krankenhaus verbracht hatte und er wollte alle seine Geschwister und natürlich meine Schwester und mich um sich haben. Es war dieses letzte Aufbäumen des Körpers. Wir wollten uns alle Hoffnung einreden, dass es jetzt aufwärts ginge, aber er wusste, dass er sich von den meisten der Anwesenden dort zum letzten Mal verabschiedete. Ich weiss nicht mehr, ob ich in den Tagen, die seinem Geburtstag folgten, noch mehrmals dort war. Damals noch zu jung zum Auto fahren, war ich darauf angewiesen, dass mich jemand hinfuhr und weder meine Mutter noch meine Großeltern waren besonders gut auf ihn zu sprechen, nachdem er ausgezogen war.
Ich telefonierte damals täglich mit meinem Vater, oder wenn er zu schwach war, mit meiner Tante, deren Familie klaglos ihr Wohnzimmer geräumt hatte und meinen Vater dort aufgenommen hatte für die letzten Monate seines Lebens, wenn er denn mal das Krankenhaus verlassen konnte. Am 21. November, das war ein Samstag, rief mein Vater an und konnte kaum noch sprechen. Er wünschte sich, dass meine Schwester und ich ihn am folgenden Tag besuchen würden.
Ich weiss noch, dass wir uns lange stumm im Arm hielten und dass mein Vater mich tröstete, weil ich gar nicht aufhören konnte zu weinen und dann weinte er auch und das war das zweite oder dritte Mal im Leben, dass ich überhaupt Tränen bei ihm sah. Und er hielt mich fest und tröstete mich und er wollte, dass ich ihm verspreche, dass ich nicht allzu traurig sein sollte, ein bisschen wäre ja in Ordnung, aber nicht zu sehr. Er wollte lieber, dass ich fröhlich sein und an ihn denken sollte.
Und das ist eines der wenigen Versprechen in meinem Leben, die ich nicht halten konnte.
Ich weiss nicht, warum ich immer noch so traurig bin, wenn ich an meinen Vater denke, warum ich immer noch diesen Verlust so stark empfinde. Wir hatten keine besonders lange Zeit, in der wir ein gutes Verhältnis zueinander hatten und ich bin dieser verdammten Krankheit gegenüber, die ihn mir weggenommen hat, so ambivalent eingestellt. Wäre er nicht krank geworden und würde heute noch leben, hätten wir vermutlich seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Erst diese todbringende Krankheit hat diesen Menschen total gewandelt und zu dem Vater gemacht, der mir so sehr fehlt. Vielleicht ist das der Grund, dass er mir erst durch die Nähe des Todes so nah gekommen ist, dass ich deswegen auch so viel an diese letzte Zeit mit ihm denken muss. Dass die Krankheit und sein Tod meine Erinnerungen an ihn so dominieren. Da sind ansonsten nicht viele glückliche Momente vorher gewesen, an die ich mich erinnern könnte und die mich froh und dankbar machen könnten. Und ich will auch gar nicht an den Menschen denken, der er vorher – vor seiner Krankheit – war. Der mich mit Gürteln, Kleiderbügeln oder was er sonst gerade in den Fingern hatte, grün und blau prügelte.
Aber der Preis, den ich dafür zahle, dass ich in seinen letzten beiden Lebensjahren einen ‚echten‘ Vater hatte, ist hoch und daran bin ich wohl selber schuld, weil ich nicht loslassen kann. Ich war jung genug, ihm zu verzeihen, aber seitdem zahle ich den hohen Preis der Sehnsucht und des Vermissens, seitdem zahle ich mit Verlust und mit einem diffusen Schuldgefühl, weil ich seine eigene Wertung, dass diese Krankheit und das, was sie mit ihm gemacht hat, das beste war, was uns passieren konnte, übernommen habe.
Seit 25 Jahren vermisse ich. Und besonders schlimm ist das im November, weil da sowohl sein Geburtstag als auch sein Todestag liegen. Heute vor 25 Jahren war ich auf der Beerdigung meines Vaters, angekotzt von dem heuchlerischen Getue der Ex-Nachbarn, die kein gutes Wort für ihn hatten und hintenrum kein gutes Haar an ihm ließen, seit er ausgezogen war, aber an diesem Tag mit traurigem Gesicht auf dem Friedhof standen. Abends dann als die Tortur mit dem gemeinsamen Kaffeetrinken rum war, saßen wir zu Hause im Wohnzimmer. Es war ausserdem der Geburtstag meines Opas und mein damaliger Exfreund, der von weit zur Beerdigung gekommen war, hatte eine Torte für meinen Opa mitgebracht, die sein Vater, der Konditor war, für ihn gebacken hatte. Und das war eine Erdbeertorte.
Und auch seit 25 Jahren sind mir diese paar Einzelheiten dieser rund 2 Wochen so tief ins Gedächtnis gebrannt und so gestört sich das auch anfühlt, ich krame das auch jedes Jahr an diesen Tagen wieder hoch. Zu groß ist meine Angst vor dem Vergessen. Ich habe so viele Phasen meines Lebens, an die ich mich gar nicht oder nur äusserst fragmentarisch erinnere, ich habe Angst davor, auch nur das kleinste Fitzelchen von meinem Vater zu verlieren. Ihn zu vergessen. Mir irgendwann nicht mehr vor Augen rufen zu können, wie er ausgesehen hat, wie seine Stimme klang. Deswegen klammere ich mich mit aller Gewalt fest. Nicht an den ganz alten Kindheitsdingen, aber dafür an allem, was zu meinem Vater – jenem späteren, den ich geliebt habe – gehört. Auch an die schlimmen Erinnerungen an jene Tage rund um seinen Tod.
Letzteres will ich nicht mehr. Ich möchte gerne diesen selbstzerstörerischen und mich immer wieder runterziehenden Teil aus dem Fokus meiner Erinnerung rausnehmen. Ich möchte endlich mein Versprechen einlösen und nicht mehr so sehr traurig darüber sein. Es wird Zeit, das zu tun.
Mein erster Schritt ist, das hier alles aufzuschreiben. Das, was ich hier notiere, geht mir nicht verloren. Das ist wie eine Art externer Datensicherung. Dann muss ich diese Dinge nicht so dringend, in meinem Bewusstsein festhalten, damit sie mir nicht im Unbewussten entgleiten.
Der nächste Schritt ist, dass ich jetzt den Todestag meines Vaters aus meinem Kalender löschen werde. Seit 25 Jahren steht er da drin und seit ich nur noch einen elektronischen Kalender nutze, ist das um so schlimmer, weil der Termin schon drei Tage vorher anfängt rumzuhupen. Diese Fokussierung will ich nicht mehr. Vergessen werde ich das Datum ohnehin nie, aber ich muss wenigstens ausprobieren, ob sich dadurch vielleicht etwas ändern kann. Ob ich vielleicht in ein paar Jahren einfach irgendwann im Laufe dieses 24. Novembers beim Blick auf den Kalender in einem normalen Ausmaß an jenen Tag vor 25 Jahren denken kann.
Loslassend. Zumindest es versuchend.
Katja
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