Eine der Sachen, die früher, im Sinne von vor der Angst, fest zu meinem Leben gehörten, waren Konzerte. Auf meinem ersten Konzert richtig großen Konzert war ich mit 14 und es war ein Udo Lindenberg-Konzert. Mit knapp 16 bin ich trotz Verbots meiner Mutter mit 2 Freunden spontan und ohne Karten ins fast 200 km entfernte Mannheim gefahren, um Genesis live zu sehen, ein paar Monate später war ich in Frankfurt bei Marillion – noch mit Fish. Dann mit Anfang 20 sind wir – in der hessischen Provinz beheimatet, wo es keine größeren Konzerte in unmittelbarer Nähe gab – nach Köln für Aerosmith gefahren, nach Köln und Frankfurt für Guns’n’Roses, nach Berlin für Meatloaf undsoweiterundsofort. Ich hab damals ein Heidengeld für Konzerttickets bezahlt, aber ich habe nie auch nur einen Pfennig – denn das war alles noch zu Zeiten der D-Mark – davon bereut, denn die Energie solcher Veranstaltungen hat mich auch hinterher noch tagelang durch den Alltag getragen. Das Pfeifen im Ohr übrigens auch, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Dann kam die Angst. Vorm Rausgehen. Vor Menschen. Vor allem vor größeren Ansammlungen von Menschen. Ich konnte einige Jahre die Wohnung nicht verlasen, nichts könnte da ferner sein, als der Gedanke auf Konzerte zu gehen. Als das Verlassen der Wohnung wieder ging, war trotzdem noch jeder Einkauf im Supermarkt schwierig und manchmal (zum Glück nur äusserst selten) ist es das heute noch und ich muss mir eine ruhige Ecke suchen und durchatmen bis die Panik sich wieder legt. Aber Konzerte, das ging eben gar nicht.
Irgendwann im Spätsommer / Frühherbst hatte ich einen Link zu einem Song von von Brücken (das gehört so, ein ‚von‘ gehört zum Bandnamen) in der Twitter-Timeline und der hat mich direkt beim ersten Anhören umgehauen.
Kurz drauf, bekam ich mit, wieso da jemand, der Songtexte schreibt, das mit der Angst zum einen thematisiert und zum anderen so gut versteht. Nicholas Müller, der Sänger und Texter von von Brücken kennt sich aus, der weiss Bescheid. Bevor er zusammen mit Tobi Schmidt von Brücken gründete, musste er seinen alten ‚Job‘ – den als Sänger von Jupiter Jones – aufgeben, weil er selber an einer Angststörung erkrankt ist. Ich schreibe hier bewusst im Präsens, denn wer die Angst selber kennt, weiss, dass es oft keinen kompletten Ausstieg mehr gibt, wenn sie einen einmal am Kragen hatte, es kann nur deutlich besser werden.
Bei Nicholas ist es das zum großen Glück, vor allem für ihn, aber nicht nur, denn dieser Mensch gehört aber sowas von auf die Bühne!
Jetzt fragt sich die eine oder der andere vielleicht, wieso ich glaube, das beurteilen zu können, wo ich doch nur vorm Rechner die youtube-Videos gucke. Aber das ist so:
Als das zweite Lied der beiden von Brückens rauskam – Gold gegen Blei – und ich das fast noch besser fand als die Lady Angst und als ich immer mehr Interviews mit Nicholas las – der übrigens allen ‚Angstgestörten‘ einen großen Dienst in Richtung Enttabuisierung leistet, dadurch, dass er so offen mit seiner Erkrankung umgeht – wurde der Wunsch in mir immer größer, die beiden live zu sehen. Denn verflucht, da steht einer auf der Bühne, singt Songs, deren Texte mir so nahe gehen wie verdammt lange keine Musik mehr, und dann kennt er sich auch noch mit Angst aus.
Ich glaube, es hätte für mich Hasenfuß keine bessere Gelegenheit und keinen größeren Anreiz geben können, meiner eigenen Angst vor den Menschenmassen auf Konzerten ins Auge zu blicken, als ausgerechnet bei von Brücken.
Dann, als die Tourdaten rauskamen und der Vorverkauf anfing und das Album rauskam, hab ich nach dem erst-mal-Augen-zu-und-durch-Prinzip Karten bestellt. Es waren ja noch fast 4 Monate Zeit bis zum Termin in Wiesbaden. Also auch jede Menge, um die Tickets möglicherweise zu verschenken, weiterzuverkaufen, wasauchimmer.
Aber je häufiger ich die Platte seitdem gehört habe (und das war verdammt oft), desto dringender wollte ich hin. Wollte diese Musik live hören.
Hab ich! War ich! War großartig! (Klick macht die Bilder groß, die Qualität ist leider händicämlausig.)
Nicholas ist so ungefähr die sympathischste Rampensau, die ich je live gesehen habe. Die Band spielt großartig zusammen und man hat das Gefühl, da steht eine zusammengewachsene Familie auf der Bühne. Weil’s erst ein Album gibt, gab’s auch wirklich alle Songs zu hören – und ich bedaure jetzt schon, dass es bei der nächsten Tour wahrscheinlich nicht mehr so sein wird, denn mir gefällt wirklich das komplette Album und ich hätte keinen der Songs missen wollen.
Ein Hoch auf den Mitdings, der mich Ende Oktober fragte, ob ich mich trauen würde, wenn er mitkäme (und er macht sich wirklich überhaupt nichts aus Livemusik) und der dann am Donnerstag tatsächlich trotz schrecklicher Erkältung, 3 eingepackten Paketen Taschentüchern und Kopfweh mit mir in Wiesbaden im Schlachthof war!
Und weil’s so schön ist, ist die Geschichte hier noch nichtmal ganz zu Ende. Als ich am Tag nach dem Konzert die Videos vom Händi auf den Rechner übertragen hatte, habe ich festgestellt, dass bis auf eines, alle anderen tonmäßig nicht zu gebrauchen sind. Und das eine, ist … äh… eher von einem ungewöhnlichen Konzertteil. Und jetzt kommt’s: kurz nachdem ich mich auf Twitter darüber amüsiert hatte, hatte ich eine DM im Postfach und jetzt ist mein Videoschnipsel Teil des Tourtagebuchs, was diesem für mich ohnehin schon sehr besonderen Ereignis noch ein kleines Krönchen* aufgesetzt hat.
Hierso. (ab 1:50 min. Aber ihr sollt das natürlich von vorne und komplett gucken!)
Katja (Kamerakind)
[*Untertreibung der Woche]