„Ich werde versuchen, es Ihnen mit einer Analogie zu verdeutlichen“, begann sie. „Vor zehn Jahren habe ich beim Spülen ein Weinglas zerbrochen und mir dabei einen winzigen Splitter in den Daumen gerammt. Ich konnte ihn nicht herausziehen und der Arzt wollte wegen der benachbarten Nervenstränge nichts unternehmen. Im Laufe der Jahre hat es manchmal ein bisschen wehgetan, mehr nicht, und der Körper hat sich die ganze Zeit vor dem Glassplitter geschützt. Er hat Hautschichten darum gebildet, bis der Splitter wie eine winzige Erbse war. Und dann hat der Körper ihn eines Tages abgestoßen. Die Erbse kam an die Oberfläche und war mit Hilfe von ein wenig Magnesiumsulfat ganz aus meinem Daumen zu entfernen.“
„Und das soll Ihre Erklärung für die Art von Realität sein, von der wir hier reden?“
„Glassplitter können auch in die Seele eindringen“, sagte sie, und schon bei der Vorstellung wurde ihm übel. „Manchmal sind diese Splitter zu schmerzhaft, um sich mit ihnen zu befassen. Wir schieben sie in die hintersten Nischen unseres Gehirns. Wir glauben, dass wir sie vergessen können. Unser Verstand beschützt uns sogar vor ihnen, indem er diese Splitter umhüllt … mit Lügen. Bis eines Tages irgendetwas passiert und ein Splitter scheinbar völlig grundlos wieder an die Oberfläche unseres Bewusstseins dringt. Der Unterschied zwischen Körper und Geist besteht darin, dass wir den Glassplitter nicht mit Magnesiumsulfat in unser Bewusstsein ziehen können.“
(Robert Wilson – Der Blinde von Sevilla, Goldmann Verlag, Seite 345f)
Diese Analogie, das Bild des Splitters, ist für mich eine wunderbare Beschreibung der Verdrängung, die manchmal so (über-)lebensnotwendig ist.
Als ich damals an Depressionen erkrankte waren es diverse Umstände in meinem Leben, die zu diesem Zeitpunkt zu einem Zusammenbruch führten. Ich hatte dabei immer das Bild eines Walls oder Staudammes vor Augen, der durch starke Beanspruchung damals zusammengebrochen ist und nicht nur die Dinge, die in meinen damaligen Lebensumständen problematisch waren, ungebrochen auf mich einstürzen ließ, sondern auch all diese Dinge aus meiner Vergangenheit nicht mehr zurückhalten konnte und in mein Bewusstsein stürzen ließ, die sich auf einmal nicht mehr verdrängen ließen.
Einigen der Dinge, die damals hochkamen, habe ich mich mittlerweile gestellt, aber da sind andere, die habe ich, sobald ich dazu in der Lage war, wieder tief in mir vergraben, weil mir bisher immer die Kraft gefehlt hat, mich damit auseinanderzusetzen. Zu denen passt das Bild der Splitter – denn immer mal wieder passiert es, dass einer davon es schafft, in mein Bewusstsein zu schwappen und mich eine Weile lang zu pieksen und zu piesaken.
Den letzten Satz des Zitates finde ich nicht mehr stimmig – ich wollte ihn nur der Vollständigkeit halber mit aufschreiben – denn mMn geht es nicht darum, den Splitter (nur) ins Bewusstsein zu ziehen, sondern ihn irgendwann/irgendwie durch diese Oberfläche hindurch ganz aus der Seele zu verbannen.
Tolles Buch übrigens und eigentlich ein verflucht spannender Krimi, nix psychomäßiges bzw. nur sehr am Rande, als Teil der Geschichte.
Katja
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