Als ich noch ein Kind war und zur Schule ging, habe ich irgendwann den Schulbus verpasst, weil ich auf unserem Hof ein kleines Mäuschen vor meiner Katze retten musste, die lauernd davor saß und sich von mir weder ablenken noch verscheuchen ließ. Erst als ich das Mäuschen auf die Hand nahm, was es wehrlos mit sich machen ließ, und zur anderen Seite des Hofes trug, löste sich seine Starre und es verschwand ganz fix in die Scheune unserer Nachbarn. Vorher hatte es wie erstarrt einen knappen Meter vor der Katze gesessen, sich nicht gerührt, nur gezittert, ganz seinem vorhersehbaren Schicksal ergeben.
…
Er war wieder hier, gestern Nachmittag, nennt mich immer noch konsequent beim falschen Namen. „Ich muss in die Wohnung, Frau B.“, ich hab’s aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen, dass ich G. heisse, beim nächsten Mal nennt er mich eh wieder B.
„Ich muss in die Wohnung“, keine Bitte, keine Frage, eine Feststellung während er schon halb drin steht, ohnehin die Wohnungstür direkt aufgestoßen hat. Ich frage mit brüchiger Stimme, warum er das muss. Er nuschelt in seinem breiten unverständlichen Dialekt etwas von auslaufenden Rohren im Keller und er müsse gucken, ob in meinem Bad etwas ausläuft. Ich sage ihm, dass das im Keller schon länger so ist, wir vor vier Wochen schon versucht haben, ihn deswegen zu erreichen, er aber nie telefonisch erreichbar sei. Sage ihm, dass ich absolut sicher bin, dass in meinem Badezimmer nichts ausläuft. Das wäre mir ja aufgefallen. Das interessiert ihn nicht mal. Er dringt noch weiter in die Wohnung ein, will die ganze Zeit an mir vorbei in Richtung Wohnzimmer, wo mein Besuch noch vorm Kaffee sitzt. Irgendwann fällt ihm ein, dass es zum Badezimmer ja in die andere Richtung geht. Er drängt sich einfach an mir vorbei, marschiert ins Bad, stellt fest, dass da nichts ausläuft. Ich wage zu sagen, dass ich das ja direkt gesagt hätte. Das ignoriert er, nuschelt mehr vor sich hin als mit mir. Zumindest war das, was er sagte viel zu undeutlich als dass ich es verstanden hätte. Und dann ist er wieder weg. Ohne sich für die Störung zu entschuldigen, sich für’s Reinlassen zu bedanken oder auch nur eine höfliche Grußformel. Vor sich hinnuschelnd, dass er jemanden damit beauftragen müsste, danach zu gucken. Ich frage gar nicht mehr, ob in meiner Wohnung oder im Keller, weil ich einfach nur froh bin, dass er wieder in der Tür steht, Anstalten macht zu gehen. Dann schließe ich die Tür hinter ihm, lehne kurz mit dem Rücken dagegen, um das Zittern in den Griff zu bekommen, atme durch.
Meine Freundin merkt, dass es mir nicht mehr gut geht, fragt, was das denn gerade gewesen sei. Ich antworte nur „Mein Vermieter. Der ist immer so.“, erzähle ein bisschen und bin froh, dass wir recht bald wieder das Thema wechseln, ich auf andere Gedanken komme, die Begegnung verdrängen kann.
Abends kommt alles wieder hoch. Ich fühle mich klein, wertlos. Bin von mir selber genervt, weil mich dieser Mensch so sehr einschüchtert, weil ich es einfach nicht schaffe, mich ihm gegenüber zu behaupten.
Jedes Mal, wenn er da war, jedes Mal, wenn er mich so überrollt hat (und die Anzahl beider Dinge ist identisch, weil er mich immer überrollt, überrumpelt, sich nie anmeldet), versuche ich hinterher das ganze aufzudröseln, auf die Reihe zu bekommen, was er an sich hat und wieso mich das noch mehr einschüchtert als es die meisten anderen Menschen tun. Ich überlege mir Strategien, plane, wie ich ihm beim nächsten Mal freundlich, ruhig und bestimmt sagen werde, er möge bitte abends wiederkommen. Oder einen Termin ausmachen. Lege mir zurecht, wie ich ihm erkläre, dass ich mit dieser Bitte im Recht bin.
Respektlos ist das Wort, was mir bei näherer Überlegung am deutlichsten in den Sinn kommt. Seine Haltung strahlt mit einer Selbstverständlichkeit ein „Das ist mein Haus und ich kann hier jederzeit überall hin, wenn ich das will“ aus und ich bin durch seine wuchtige Gestalt so eingeschüchtert, dass ich genau dieser Haltung nichts entgegensetzen kann. Mich ausgeliefert fühle „Es ist sein Haus, er kann hier jederzeit überall hin, wenn er das will“. Ich fühle mich rechtelos, das Wissen, dass er jeden Monat gutes (und viel davon und immer pünktlich) Geld für die Wohnung bekommt und folglich kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis (ich will in seiner Wohnung wohnen) besteht, ist zwar in meinem Kopf theoretisch vorhanden, aber nicht mehr, sobald er mir gegenüber steht. Dann sind alle zurechtgelegten Strategien hinfällig und ich falle in eine Erstarrung, lasse mit mir machen, so lange bis er wieder weg ist. Dann fällt die Starre ab und ich bin für den Rest des Tages zu nichts mehr zu gebrauchen, fühle mich wie vom Zug überrollt, bin wütend, dass er mir so begegnet, bin frustriert, dass ich ihm wieder nichts entgegensetzen konnte.
Dann dauert es einige Tage bis ich mich überhaupt wieder sicher fühlen kann, in der eigenen Wohnung. Bis ich sie wieder als „meine“ Wohnung empfinden kann und nicht als „seine“.
Ich will das nicht mehr, aber jedesmal mitten in der Situation drin, bin ich völlig davon überfordert, nicht zu erstarren.
Und ich frage mich, wie oft ich da noch durch muss bis ich mich widersetze oder ob ich mich vielleicht einfach damit abfinden sollte, dass das ein, zweimal im Jahr passiert, weil mir wirklich die Idee fehlt, wie ich dagegen ankommen soll und weil alle guten Ideen und guten Ratschläge, so toll sich das in der Theorie auch anhören und gedanklich durchspielen lässt, nicht mehr funktonieren sobald er mir gegenüber steht.
Hier schonmal passiert und auch drüber geschrieben. Da war er nicht mal in der Wohnung. Mist das.
Katja