Sie ruft an, klingt zögerlich, stockend. „Ich wollte dir nur erzählen…“ fast schon als Entschuldigung für’s Anrufen vorgetragen, mindestens als Begründung. Die Spannung, die das Gespräch vorgestern erzeugt hat, ist deutlich zu spüren. Wir vermeiden beide, einander zu fragen, wie es uns geht, fast als hätten wir Angst dadurch zwangsläufig wieder bei dem Thema zu landen. Stattdessen verlieren wir uns nach einigen Sätzen in Belanglosigkeiten. Lediglich die Redepausen zeigen, dass sich etwas verändert hat, längst nicht alles so normal und banal ist, wie das Gespräch vermuten ließe. Wir reden fast eine Stunde, krampfhaft, verkrampft.
Nachdem ich aufgelegt habe, bin ich enttäuscht, traurig, habe das Gefühl, sie wird wieder alles von sich wegschieben, verdrängen, einfach so weitermachen wie immer. Sich ihre Illusionen und ihr Weltbild wieder so zurechtzimmern, dass ihre Rolle ihr gefällt.
Jetzt eine halbe Stunde später frage ich mich, ob sie vielleicht doch darauf gewartet hat, dass ich das Thema nochmal anschneide, ob sie sich vielleicht einfach nicht getraut hat, nicht wusste, wo sie anfangen soll. Es war jede Menge harter Tobak, den sie abbekommen hat. Wollte sie vielleicht sehen, merken, ob ich sie anders behandle als in der letzten Zeit? Hätte ich heute den Schritt machen müssen, damit etwas anders wird? Ist wieder alles normal für sie, weil ich so relativ normal war?
Ich wollte sie nicht schon wieder quälen, hab mich Dienstag Abend und gestern den ganzen Tag schon wie ein Schwein gefühlt, dafür überhaupt etwas gesagt zu haben. Auf der anderen Seite so erleichtert und befreit, die Worte endlich mal an die richtige Adresse zu richten. Nicht mit jeder Menge anderer Menschen über damals zu reden, zu erzählen, sondern endlich mal mit dem Menschen, der beteiligt war, verantwortlich war. Es hat gut getan ihr so vieles entgegenzuschleudern und trotzdem habe ich mich mies gefühlt, ihr Weltbild und vor allem Selbstbild, das sie sich in den vielen Jahren selber vorgelogen hat, so zu zerdeppern. Ich bin kein Mensch für Rache oder Genugtuung. War noch nie meins. Und ich quäle mich selber dafür, dass es sich so gut angefühlt hat, ihr das endlich mal alles zu sagen.
Es ist nicht deine Verantwortung, wenn sie sich jetzt schlecht fühlt. Das liegt nicht an deinen Worten gestern, sondern an ihren Taten damals. Die Worte eines Freundes rufe ich mir immer wieder in den Sinn, um nicht in Schuldgefühlen zu versinken.
Ihr ging’s nicht sonderlich gut heute. Das habe ich gehört. Trotzdem wünsche ich mir wirklich, dass sie sich damit auseinandersetzt, in ihren Erinnerungen kramt, sich mit mir auseinandersetzt, sich mit meiner Schwester auseinandersetzt und nicht wieder nur den Mantel des Schweigens und Vergessens über allem ausbreitet.
Katja